NUTZE DIE KRAFT DER EMOTIONEN, UM DICH SELBST UND ANDERE ZU VERSTEHEN
14. April 2021
von Begoña Martinez
von Begoña Martinez
Heftige Emotionen zu zeigen, sei es im Privaten oder im Berufsleben, gilt allgemein als unangemessen und fehl am Platz. Insbesondere das Ausdrücken von negativen Emotionen, wie zum Beispiel Wut oder Eifersucht, gilt gar als politisch inkorrekt.
Dennoch haben Arbeitskollegen oft Mühe, ihre Frustration und ihren Stress zu verbergen. Paare und Freunde können eine passiv-aggressive Grundhaltung entwickeln, die am Vertrauen nagt; gut intentionierte Führungskräfte des mittleren Kaders bemühen sich, ihre Emotionen zu verbergen und können auf lange Sicht an Depressionen leiden. Leitende Führungskräfte können einen autoritären Führungsstil entwickeln, der nicht nur die Zusammenarbeit ausbremst sondern die Kreativität der Mitarbeitenden im Keim erstickt.
Denn Emotionen sind ein integraler Bestandteil unseres Wesens: es wäre praktisch unmöglich, von jemandem zu erwarten, dass er seine Emotionen beiseite stellt wenn er durch die Bürotür schreitet oder sich zum nächsten Online-Meeting zuschaltet.
Anstatt negative Emotionen zu unterdrücken, sollten wir sie erforschen und uns mit ihnen anfreunden. Dadurch können wir verstehen, wer wir sind, was uns wirklich wichtig ist und warum Andere so handeln, wie sie es tun. Das Verstehen unserer Emotionen kann uns bei der Entwicklung von Selbstmitgefühl, Empathie und echter Verbindung mit uns selbst und mit Anderen einen grossen Schritt weiterbringen.
Was sind Emotionen?
Laut Dr. Paul Ekman, einem der führenden Experten in Psychologie, gibt es fünf universelle Emotionen, die alle Menschen miteinander gemein haben.
Dr. Ekman ist der erste Wissenschaftler überhaupt, der eine umfassende Topographie der menschlichen Emotionen entwickelt hat, den sogenannten «Atlas der Emotionen». Er wurde auf Initiative von S.H. dem Dalai Lama entwickelt und vom Mind & Life Institute co-finanziert.
Nach Ekmans Atlas der Emotionen sind die fünf universellen Emotionen uns allen gemeinsam, unabhängig von Sprache, Kultur, ethnischer Zugehörigkeit oder Erziehung. In diesem Sinne werden sie als ein biologisches Gut betrachtet.
Die fünf universellen Emotionen sind Traurigkeit, Furcht, Ekel, Wut und Freude. Jede dieser Emotionen hat ihre eigenen charakteristischen Merkmale, ihre eigene Physiologie und ihren eigenen Zeitablauf. Während ihre Dauer in Abhängigkeit von der jeweiligen Emotion variieren kann, sollte sie nicht länger als eine Stunde dauern. Jenseits dieses Zeitrahmens kann eine Emotion zu einer Stimmung oder zu einer Störung werden.
«Emotionen sind ein Prozess, eine eigene Art von einer automatischen Beurteilung, die von unserer evolutionären und persönlichen Vergangenheit beeinflusst ist, in der wir spüren, dass etwas Wichtiges für unser Wohlergehen geschieht, und eine Reihe von psychologischen Anpassungen und emotionalen Verhaltensweisen beginnt, um mit der Situation umzugehen.» — Dr. Paul Ekman, PhD
Alle Emotionen haben drei Gemeinsamkeiten:
Eine subjektive Komponente: wie wir die Emotion erleben,
Eine physiologische Komponente: wie die Emotion im Körper erfahren wird, also welche körperlichen Empfindungen eine Emotion begleiten.
Eine expressive Komponente: wie Sie sich in der Reaktion auf eine Emotion verhalten und handeln.
Emotionen zeigen uns unseren moralischen Kompass
Emotionen können sehr hilfreich sein, wenn wir uns auf sie einstimmen und darauf hören, was sie uns sagen. Zum Beispiel zeigen uns Emotionen, was uns wichtig ist.
Wir sind traurig über den Verlust von etwas oder jemandem, das oder der uns am Herzen liegt. Wir werden wütend über Ungerechtigkeiten in der Welt oder wenn wir selbst unfair behandelt werden. Wir sind eifersüchtig, wenn wir bemerken, dass unser Lebenspartner für einen anderen Mann oder eine andere Frau Anziehung und Interesse empfindet, was die Chancen der Fortpflanzung gefährden könnte. Und wir schauen mit Neid auf die Kompetenzen unseres Kollegen, weil wir darin den Wert erkennen, den diese für dessen oder unsere nächste Beförderung haben könnten.
Emotionen haben die Fähigkeit, uns zu zeigen, was uns wichtig ist: sie werden oft ausgelöst, wenn die Werte, die unseren moralischen Kompass ausmachen, mit Füssen getreten werden.
Emotionen können uns auch bei der Entscheidungsfindung helfen
Wenn wir vor einer wichtigen Entscheidung stehen, stellen Sie dann normalerweise eine Liste mit Vor- und Nachteilen auf oder folgen Sie Ihrem Bauchgefühl?
Auch wenn Sie der rationale Typ sind, entstehen Emotionen als Reaktion auf Gedanken über die Gegenwart oder Erinnerungen an die Vergangenheit, welche die aktuelle Situation mit einer bestimmten Tonalität einfärben.
Entscheidungen in einer bestimmten Situation hönnen sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob wir uns wütend, traurig, ängstlich oder freudig fühlen.
Es kann zum Beispiel sein, dass wir aus Wut eine unangemessene, auf schlechtem Urteilsvermögen basierende Handlung vornehmen; dass wir uns zum Beispiel angesichts einer bevorstehenden Beförderung aus Kummer selbst unterbewerten; oder dass wir eine wichtige Entscheidung aus Furcht und Angst hinauszögern; und dass wir aus Freude und übermässigem Selbstvertrauen ein neues Projekt annehmen, das unsere Fähigkeiten komplett übersteigt. Wenn sich die Meditationspraxis einpendelt, beginnt der Strom der Gedanken und Empfindungen, sich zu entschleunigen. Sie sind in der Lage, den Reichtum Ihrer inneren Welt detaillierter wahrzunehmen, als ob die Linse Ihres Mikroskops auf wundersame Weise klarer wird.
Was ist die evolutionsbiologische Rolle von Emotionen?
Nach Charles Darwin helfen Emotionen aus evolutionsbiologischer Sicht, eine Vielzahl von Anpassungsproblemen zu lösen, welche die Chancen aufs Überleben gefährden könnten.
Wie Dr. Paul Ekman sagt, «bereiten uns Emotionen darauf vor, mit bedeutenden Ereignissen umzugehen, ohne darüber nachdenken zu müssen». Konfrontiert mit einer Überlebensfrage – wie z.B. der Flucht vor einem Raubtier – löst die Emotion der Angst eine Reihe von physiologischen Prozessen aus (beschleunigter Herzschlag, Cortisol-Ausschüttung, Hemmung des Verdauungssystems), die den Körper darauf vorbereiten, zu fliehen, ohne rational darüber nachdenken zu müssen – was in extremen Gefahrensituationen verheerende Folgen hätte.
Heutzutage gibt es zahlreiche Fälle, in denen die instinktive Stressreaktion schlecht an die Gegebenheiten unseres Lebens angepasst ist: die Wahrscheinlichkeit, auf der Hauptstrasse von einem Tiger angegriffen zu werden, ist ziemlich gering.
Doch die moderne Gesellschaft ist voll von vermeintlichen «Raubtieren», wie z. B. einem herrschsüchtigen Chef, die – obwohl sie keine reale Bedrohung für das Überleben darstellen – vom limbischen System des Gehirns als reale Bedrohung fürs eigene Wohlbefinden wahrgenommen werden.
Der Kampf-oder Flucht-Mechanismus wird aktiviert: die Nebennieren sättigen den Blutkreislauf mit hohen Dosen von Cortisol, der Herzschlag beschleunigt sich, die Hände schwitzen und das Verdauungssystem wird gehemmt. Eine unangepasste physiologische Reaktion, die, wenn sie über längere Zeit anhält, katastrophale Auswirkungen auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden haben kann.
«Das menschliche Gehirn ist fest verdrahtet für Negativität, was dem Menschen geholfen hat, in schwierigen Umständen zu überleben – doch es ist an der Zeit für ein Update unserer Hardware, damit unsere Spezies bessere und angepasste Formen entwickeln kann, um auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren." Joe Loizzo, PhD, Nalanda Institute
Wie können Achtsamkeit, Gewahrsein und Selbstmitgefühl helfen, Emotionen zu regulieren?
Der Praxis von Achtsamkeit, Gewahrsein und Selbstmitgefühl wird eine Schlüsselrolle bei der Regulierung von Emotionen zugeschrieben. Die Praxis der Achtsamkeit hilft uns, die Emotionen zu unserem Vorteil zu nutzen, anstatt uns von ihnen per Autopilot leiten zu lassen.
Eine Emotion wird durch ein äusseres Ereignis ausgelöst, durch eine innere Wahrnehmung genährt und durch eine wiederholende Zuwendung aufrechterhalten. Achtsamkeit erlaubt uns, unsere innere Wahrnehmung zu verändern und unsere Aufmerksamkeit vom Auslöser der Emotion weg zu lenken.
Die Innenwahrnehmung einer Emotion ist geprägt von unserer Bildung, unseren persönlichen Werten, unserer Erziehung, Kindheitstraumata und vergangenen Erfahrungen. Die Praxis der Achtsamkeit, des Gewahrseins und des Selbstmitgefühls kann wesentlich helfen, eine gesündere Beziehung zu unserem traumatisierten Selbst aufzubauen.
Ein leichter Weg, sich der Emotionen gewahr zu werden
Sich mit seinen Emotionen anzufreunden, muss nicht schwierig oder zeitaufwendig sein. Diese Übung kann zu jedem Zeitpunkt des Tages oder sogar inmitten eines emotionalen Ausbruchs angewendet werden:
Setzen Sie sich an einen ruhigen Ort, den Rücken gerade und Ihre Füsse berühren den Boden
Atmen Sie ganz normal und achten Sie dabei auf die Empfindungen an Ihrer Nasenspitze, wie der Atemfluss ein- und ausströmt und auf die sachte Bewegung Ihres Bauches, wie er sich hebt und senkt.
Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit allmählich auf die körperliche Empfindung der Emotion, wo auch immer sie im Körper auftritt: das Pulsieren des Herzens, die Enge des Halses, die Anspannung des Nackens, das Brodeln in der Brust, usw.
Erforschen Sie die körperliche Empfindung gründlich: Welche Farbe hat sie? Welche Form hat sie? Wie intensiv ist sie, von 0 bis 9?
Bringen Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die körperliche Empfindung und halten Sie Ihren Fokus der Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Qualitäten der körperlichen Empfindung
An diesem Punkt kann es schwierig sein, bei der Emotion zu bleiben, während sie auftritt. Die Körperempfindung als Anker für Ihre Aufmerksamkeit zu nehmen, wird Ihnen helfen, die Mitte zu halten. Die fürchterliche Emotion, die wir eben noch als lähmend und bedrohlich empfunden haben, kann auf diese Weise besser handhabbar werden.
Jedes Mal, wenn Sie bemerken, dass Sie in den Gedanken des Erzählstrangs, der «Story», welche die Emotion ausgelöst hat, gefangen sind, lenken Sie lediglich Ihre Aufmerksamkeit davon ab und wenden sich wieder Ihrem Atem oder der körperlichen Empfindung Ihrer Emotion – wie oben beschrieben – zu.
Bleiben Sie bei der Emotion und schenken Sie ihr so viel Beachtung, liebevolle Zuneigung und Mitgefühl, wie Sie nur können. Bringen Sie ihr so viel fürsorgliche Aufmerksamkeit entgegen, wie Sie es mit einem neugeborenen Baby oder einem geliebten Haustier tun würden.
Diese wunderbare Praxis kann, wenn regelmässig geübt, einen dauerhaften Einfluss darauf haben, wie Sie mit Ihren eigenen Emotionen und denen anderer Menschen umgehen.
Hier im Landguet Ried wissen wir, dass es nicht immer einfach ist, eine regelmässige Übungspraxis allein aufrechtzuerhalten. Deshalb bieten wir Ihnen durch das Jahr hindurch verschiedene Veranstaltungen an, die Sie dabei unterstützen, zu lernen mit Ihren Emotionen effektiv und konstruktiv umzugehen. Schauen Sie sich unser Angebot hier an >
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Begoña Martinez ist seit Dezember 2015 Geschäftsführerin des Landguet Ried, Center for mindful living. Zuvor war sie als Senior Programm Manager beim Weltwirtschaftsforum tätig, wo sie von 2008 bis 2015 die Entwicklung der Gesundheits- und Leadership-Programme der Davoser Agenda leitete. Hier leistete sie Pionierarbeit bei der Integration von Achtsamkeitsthemen in die jährliche Tagesordnung, wobei sie eng mit den Vordenkern dieses Gebiets wie Jon Kabat-Zinn, Richard Davidson und Matthieu Ricard zusammenarbeitete. Sie praktiziert die Meditation und den Buddhismus seit über 20 Jahren unter Anleitung ihres buddhistischen Lehrers Gyetrul Jigme Rinpoche.