Mahamudra-Meditation und Yoga
Wie helfen dir diese beiden tausendjährigen Techniken, im natürlichen Zustand des Geistes zu verweilen?
29. September 2021
Wenn du regelmässig meditierst oder Yoga praktizierst, hast du diese beiden Worte bestimmt schon einmal gehört: Mahamudra-Meditation und Yoga. Aber vielleicht nicht in Kombination.
Wo liegen die Gemeinsamkeiten?
Mahamudra verstehen
Wenn dir die Meditationpraxis vertraut ist, hast du wahrscheinlich schon Shamata, die Technik des ruhigen Verweilens, und Vipassana, den Zustand tiefer Einsicht, der sich ganz natürlich einstellt, wenn der Geist als Ergebnis der Shamata-Praxis klar und konzentriert ist, praktiziert.
Wie du wahrscheinlich schon auf deinem Meditationskissen erfahren konntest, praktizierst du beim Üben von Shamatha und Vipassana die Kunst des natürlichen Seins. Führen dich diese Meditationen in einen Zustand der völligen Entspannung, praktiziert du Mahamudra und der Zustand des Seins entsteht aus deinem natürlichen Gewahrsein heraus von selbst. Mahamudra zu praktizieren bedeutet, vollständiges Gewahrsein zu praktizieren und die völlige Entspannung des Geistes zu erfahren, jenseits von Konzepten, Dualität und Kampf.
Mahamudra ist das «Grosse Siegel».
«Mahamudra zu praktizieren bedeutet zu erkennen, dass alle Erfahrungen ohne jede Ausnahme das Siegel der Leerheit oder des Nicht-Selbst tragen.»
«Wenn Mahamudra mit grosser Entspannung und Offenheit praktiziert wird, können wir eine Ausweitung der Vier Grundlagen der Achtsamkeit (Sattipatthana) erfahren. Eine Erweiterung hin zu mehr Leichtigkeit und Vertrauen, weniger Anstrengung und vor allem eine grössere Öffnung der sechs Sinne.» — Lama Tilmann
In der Mahamudra-Praxis öffnen wir uns bewusst für die Sinneswahrnehmungen, um in einen sehr weiten geistigen Raum eintreten zu können, in dem alle geistigen Bewegungen willkommen sind. Jeder unserer sensorischen Sinne wird gleichwertig und bewusst wahrgenommen.
Etwas anders als bei der Vipassana-Meditation legen wir nicht so viel Wert darauf, die einzelnen geistigen Bewegungen zu benennen, um sie wahrnehmen zu können, sondern wir öffnen uns für alle Sinneswahrnehmungen und öffnen uns dadurch unseren inneren Raum in seiner ganzen Weite. Uns interessiert nicht so sehr, was in uns erscheint, sondern vielmehr, wie wir die geistigen Phänomene erleben. Wir fragen uns: «Wie ist es?», «Wie ist es, einen Gedanken zu haben?», «Wie ist es, ein Geräusch zu hören», «Wie ist es, Schmerzen im Knie zu spüren?».
Wir lassen innere und äussere Phänomene ohne Anstrengung erscheinen und erlauben ihnen dadurch, sich selbst zu befreien. Dadurch können wir ein tiefes Vertrauen für alles entwickeln, was in uns auftaucht, sei es Freude, Angst, Schrecken oder Glück. Dann können wir die Erfahrung machen, dass diese Gefühle in der Weite unserer Sinneserfahrungen von selbst vergehen und sich auflösen.
Das ist Mahamudra, das Grosse Siegel.
Yoga und die Verbindungen zu Mahamudra
Yoga-Praktizierende beziehen sich in der Regel auf die Entspannung und das Bewusstsein, die in den schnellen Yogastellungen erfahren werden, die Bewegung, Atmung und Konzentration des Geistes miteinander verbinden. Wenn sich der Geist im Kern der Yogahaltung aber entspannt, entsteht ein geistig-körperlicher Raum, in dem sich sowohl geistige als auch körperliche Prozesse entspannen können.
Das Wort «Yoga» bedeutet im Wesentlichen «das, was dich zur Realität bringt». — Sadhguru
Diese Grundhaltung des Nicht-Strebens und des Zulassens, dass sich alles ganz natürlich von innen heraus entwickelt, kennzeichnet sowohl die Yoga- als auch die Mahamudra-Praxis. Wir hören auf unseren Körper und Geist, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, ohne eine Haltung oder Bewegung zu perfektionieren: In diesem Zustand der Offenheit bringt die volle Geistesgegenwart die notwendige Kraft, um in der entspannten Spannung der Haltung zu verweilen.
Die Yogapraxis dient dazu, das kraftvolle Element unseres Bewusstseins in Körper und Geist zu erfahren. Die Asana- und Pranayama-Übungen fordern den Körper heraus, während der Geist entspannt bleibt. In verschiedenen Sequenzen durchgeführt – mal sanfter, mal anregender – erlauben sie uns, die ganze Bandbreite unserer mentalen und sensorischen Wahrnehmungen in den verschiedenen Phasen der Entspannung zu erkunden.
Yogaübungen bringen zudem Dynamik in die Meditationspraxis. Die Asanas rücken den Körper in den Mittelpunkt unseres Bewusstseinsfeldes und helfen, unsere Aufmerksamkeit zu kanalisieren. Das Erleben der Synergien zwischen Kraft und Entspannung in der achtsamen Bewegung bereitet den Raum für eine vollständige Wahrnehmung von Körper und Geist in der formalen Sitzpraxis.
«Das Vertrauen in das eigene gesunde Potiental in das Erwachen verbindet beide Traditionen, Mahamudra and Yoga.» — Lama Tilmann
Darüber hinaus beschreiben viele klassische Yogatexte einen eher kontemplativen Geisteszustand, in dem die sensorischen Bewegungen eingeschränkt sind. Dies ist etwas anders als der Ansatz, den wir in Verbindung mit der Mahamudra-Praxis erleben wollen.
In bestimmten Yogatraditionen wie dem Yoga Sutra von Patanjali ist das Element der Konzentration ebenfalls präsent. Patanjali verweist auf die acht meditativen Stufen (Jhanas), die durch meditatives Gewahrsein hervorgerufen werden. Dies ist ein weiteres Element, das der Yoga- und der buddhistische Weg gemeinsam haben. Es ist daher sinnvoll, dass sich beide Traditionen gegenseitig befruchten.
Buddha erkannte jedoch, dass die acht Jhanas oder meditativen Stufen nicht zur Befreiung führen. Es bleibt eine subtile Anhaftung an ein « Ich », die ihnen innewohnt. Buddha erkannte auch, dass man in der Meditation körperliche Empfindungen, Gefühle und Gedanken nicht ignorieren kann. Die Herausforderung besteht darin, offen zu sein und sie anzuerkennen, ohne sich in ihnen zu verlieren.
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Interview mit Tilmann Borghardt und Evelyne Hunger, geführt von Therese Pechstein für das Landguet Ried.