Sechs zuverlässige Wege zur Bewältigung jeder Katastrophe
11. Oktober 2021
von Linda Graham
The bamboo that bends is stronger than the oak that resists.
— Japanes proverb
Wie bleibst du widerstandsfähig und einfallsreich, wenn Katastrophen dein Boot zu überschwemmen drohen? Wenn der Job verloren geht, die Beziehung zerbricht, eine ernsthafte Krankheit diagnostiziert wird, wenn Unsicherheit und Kummer in den Familien- und Freundeskreis sickern, wie kann man von all diesen Herausforderungen «betroffen», aber nicht «infiziert» sein?
Hier sind sechs praktische Hilfsmittel und Ressourcen, die sich in den 25 Jahren, in denen ich meinen Klienten helfe, die Herausforderungen und Krisen ihres Lebens geschickt zu bewältigen, als besonders effektiv herausgestellt haben.
1. Zähle bis zehn, bevor du reagierst
Die Volksweisheit, bis zehn zu zählen, bevor man reagiert, funktioniert, weil das Zählen bis zehn dem Gehirn die wenigen kostbaren Sekunden verschafft, die es braucht, damit der Kortex — dein höheres Gehirn — sich auf ein Ereignis konzentrieren und darüber nachdenken kann, ohne voreilig zu reagieren. Der Kortex ist der Teil deines Gehirns, der Stressreaktion am stärksten außer Kraft setzen und das Feuern deines Angstzentrums — der Amygdala — unterdrücken kann. Er ist auch der einzige Teil deines Gehirns, der bewusst arbeitet, mit Gewahrsein.
Durch das Zählen bis zehn, kannst du bei deiner Einschätzung, was als Nächstes zu tun ist, bewusst auf explizite Erinnerungen zurückgreifen. Deine expliziten Erinnerungen tendieren dazu, positiver zu sein, als frühere, ausschließlich implizierte Erinnerungen deines Unterbewusstseins. Indem du bis zehn zählst, kannst du den Automatismus alter Reaktionsmuster durchbrechen und klar und genau sehen, was tatsächlich und wirklich passiert. Denkst du über deine Erfahrungen ohne Reaktivität, ohne Verzerrung, nach, kannst du auf jedes Ereignis flexibler, klüger und widerstandsfähiger reagieren.
2. Zugang zu widerstandsfähigen Erinnerungen meistern
Ist der Kortex einmal eingeschaltet, kannst du auf Netzwerke der expliziten Erinnerungen zugreifen, wo du ein beunruhigendes Ereignis in früheren Zeiten gut bewältigt hast.
Das Gehirn schafft sich selbst verstärkende Erinnerungsschleifen, diese können aufsteigend zu Resilienz führen oder absteigend in ein Trauma münden. Hast du etwa eine Erinnerung an Liebe, auch beim Verlust einer Beziehung, kannst du darauf vertrauen, dass du wieder Liebe finden wirst. Erinnerst du dich daran, schon einmal einen Job bekommen zu haben, auch bei Entlassungen in schwierigen Zeiten, kannst du darauf vertrauen, dass du wieder einen Job finden wirst.
Auch wenn du bis in die dritte Schulklasse zurückgehen musst, um einen Moment zu finden, indem du einer Notlage oder Enttäuschung mit Mut und Entschlossenheit begegnet bist, finde diesen einen Moment und schätze ihn. Bewahre und pflege das Gefühl selbst widerstandsfähig, mutig und einfallsreich zu sein. Nimm es als einen Teil deiner wahren Natur auf, deiner angeborenen Fähigkeit mit den Belastungen des Lebens umgehen zu können, damit du darauf zurückgreifen kannst, wenn du mit neuen Stressfaktoren konfrontiert wirst.
3. Aktiviere den beruhigenden Zweig deines Nervensystems
Es gibt viele Möglichkeiten, sich selbst zu beruhigen, und einige werden für dich besonders geeignet sein. Hier sind vier Vorschläge, die sich in der Forschung oder in meiner Praxis bewährt haben.
a. Atmung. Tiefe Bauchatmung aktiviert den parasympathischen Zweig deines autonomen Nervensystems und verlangsamt deine Reaktionsfähigkeit. Langsames, tiefes Atmen kann eine ausgewachsene Panikattacke innerhalb weniger Minuten deeskalieren. Sich der Atmung während des Tages zu erinnern, entspannt dich den gesamten Tag über und hilft dir, Ruhe als deine wirkliche Grundeinstellung zu etablieren und nicht Stress als das neue Normal zu empfinden.
b. Die Hand auf dem Herzen. Stress aktiviert die Nervenzellen rund um das Herz. Deine warme Hand auf deinem Herzzentrum beruhigt diese Neuronen wieder, oft in weniger als einer Minute. Die Hand auf dem Herzen funktioniert besonders gut, wenn du gleichzeitig positive Gedanken, Gefühle, Bilder von Sicherheit und Vertrauen, Leichtigkeit und Güte in dein Herz atmest.
c. Poesie. Da Poesie metaphorisch, imagistisch, emotions- und sinnesbasiert ist, aktiviert das Rezitieren von Poesie die rechte Gehirnhälfte, die Erfahrungen in einem ganzheitlichen, imagistischen, emotions- und sinnesbasierten Modus verarbeitet. Da die rechte Gehirnhälfte reich an neuronalen Verbindungen zum limbischen System in der unteren Gehirnhälfte ist, einschließlich des Alarmzentrums und des emotionalen Bedeutungszentrums der Amygdala, kann das Kuscheln mit einem Partner oder einem Haustier, das Trinken einer warmen Tasse Tee und das Lesen von Gedichten die Nerven in etwa zehn Minuten beruhigen und entspannen.
d. Meditation. Sylvia Boorsteins Buch Don’t Just Do Something, Sit There, spricht die instinktiven und sozialisierten Tendenzen des Tuns, des Handelns an (Kampf-Flucht). Die Befolgung ihrer Anweisungen zur mitfühlenden Achtsamkeitsmeditation ist ein sanfter Weg, Geist und Körper zu beruhigen und die Dinge einfach sein zu lassen, was mit der Zeit zu einer beständigen inneren Ruhe führt, die dich auf lange Sicht unterstützt.
4. Beruhigung nervöser Neuronen durch Berührung
Die moderne Neurowissenschaft bestätigt, was mitfühlende Menschen schon immer wussten: Wir sind darauf programmiert, dass Berührung uns beruhigt. Warme, sichere Berührungen bauen Stress ab, weil sie das Gehirn zur Ausschüttung von Oxytocin veranlassen, dem Hormon der Sicherheit und des Vertrauens, der Ruhe und der Verbundenheit. Oxytocin ist das direkte und unmittelbare Gegenmittel des Gehirns gegen das Stresshormon Cortisol.
Wenn du Berührungen benutzt, um die Freisetzung von Oxytocin zu aktivieren, wirst du weniger gestresst reagieren, wenn beunruhigende Ereignisse eintreten, und kannst Ängste und Schmerzempfindungen überwinden, selbst in Situationen, die für andere aufreibend sind. Eine 20-sekündige Ganzkörperumarmung reicht aus, um Oxytocin im Gehirn freizusetzen, was den Stress bei Paaren reduziert. Wege zu finden, um „im Kontakt“ mit geliebten Menschen zu bleiben, ist das bestmögliche Gegenmittel gegen Stress und ein großer Puffer gegen Traumata.
Finde einen Freund, Partner oder freundlichen Kollegen, um fünfminütige Kopfmassagen austauschen, die sinnlich, doch nicht sexuell sind. Berührung, Wärme und Bewegung können Oxytocin in deinem Gehirn freisetzen und dein Angstzentrum beruhigen, deinen Blutdruck senken sowie deine rasenden Gedanken in wenigen Minuten beruhigen. Die sanfte Massage der Finger auf der Kopfhaut, der Stirn, der Nase, dem Kiefer und den Ohren ermöglicht es dir, für ein paar Momente von Stress und Druck abzuschalten.
5. Nimm dir Zeit, an den Rosen zu riechen
Zeit in der Natur zu verbringen, kann Teil der Verlangsamung sein, des Durchatmens, der Rückbesinnung auf das große Ganze, der Neugruppierung zur besseren Bewältigung. Zeit in der Natur fördert auch unser Gehirn und damit unser Funktionieren, unsere Bewältigung.
Zum Beispiel verbessert ein zehnminütiger Spaziergang durch einen Park deine Aufmerksamkeit und dein Arbeitsgedächtnis besser als ein zehnminütiger Spaziergang durch die Innenstadt. Finde eine Möglichkeit, jeden Tag auch nur eine kleine Zeitspanne in einem Wald, Park oder Garten zu verbringen. Du wirst weniger dazu neigen, auf stressige Ereignisse gestresst zu reagieren.
6. Finde das Geschenk im Fehler
Es ist so einfach, in Selbstkritik zu verfallen, wenn man eine schlechte Entscheidung getroffen oder schlecht auf eine stressige Situation reagiert hat. «Wie konnte ich nur so dumm sein!», «Ich kann nicht glauben, dass ...!»
Es ist wichtig, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen, Verantwortung zu übernehmen, ja. Unbedingt. Aber wenn das geschehen ist, führt die Aufrechterhaltung der Scham- oder Schuldgefühle nur dazu, dass der Stress weitergeht. Und Stress hemmt die Funktion der Teile des Gehirns, die in weiser Voraussicht entscheiden könnten, was jetzt zu tun ist.
Viel besser ist es, aus dem Bedauern eine Lehre zu ziehen. Du kannst deinen Fehler zu einem Lernprozess umgestalten:
Das ist geschehen.
Das habe ich getan.
Das war der Preis.
Das habe ich gelernt.
Das könnte ich in Zukunft anders machen …
Du kannst dir selbst verzeihen, und weitergehen.
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Ein effektiver Umgang mit den Herausforderungen und Krisen die uns das Leben bereithält, ist der Schlüssel für unsere Widerstandsfähigkeit (Resilienz) und unser Wohlbefinden. Ob es um die Bewältigung kleiner Ärgernisse oder umfassender Katastrophen geht, Linda Graham weiss, wie man die Instrumente und Fertigkeiten entwickelt, die erforderlich sind, um sich von Stress und Trauma zu erholen.
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Linda Graham, LMFT ist eine erfahrene Psychotherapeutin und Lehrerin für achtsames Selbstmitgefühl in der San Francisco Bay Area.
In ihren internationalen Trainings und Workshops integriert sie moderne Neurowissenschaften, Achtsamkeitspraktiken und Beziehungspsychologie.
Sie ist die Autorin von «Resilience: Powerful Practices for Bouncing Back from Disappointment, Difficulty, and Even Disaster» und dem preisgekrönten Buch: «Bouncing Back: Rewiring Your Brain for Maximum Resilience and Well-Being».